Mein Bruder machte sich über mein Erbe lustig: Ich bekam das alte Haus, er bekam Papas Geschäft – bis der Anwalt kam …
Das Erbe des Zweiflers
Das Lachen meines Bruders hallte noch lange in meinen Ohren nach, nachdem wir das Notariat verlassen hatten. Es war ein gellendes, siegesgewisses Lachen.
„Du hast die alte Bruchbude bekommen“, höhnte Jonas laut genug, dass die wenigen verbliebenen Verwandten, die noch vor Ort waren, es hören konnten. „Ich habe das Imperium. Das $4 Millionen-Geschäft von Papa gehört mir. Dir? Dir gehört ein Haus, das kurz vor dem Einsturz steht.“
Die Tanten und Cousins rückten unbehaglich auf ihren Stühlen herum. Jonas kümmerte das nicht. Das hatte es noch nie.
Was mein Bruder allerdings nicht wusste – was niemand in diesem stickigen Büro des Notars Herrn Dr. Sommer wusste –, war, was Papa wirklich in den alten Mauern unseres Elternhauses versteckt hatte. Als Jonas das herausfinden würde, wäre es längst zu spät. Mein Vater hatte langfristig geplant, und ich war kurz davor, zu gewinnen.
Mein Vater, Klaus Weber, starb an einem Dienstagmorgen im März an einem plötzlichen Herzinfarkt. Er war 68. Bis zu diesem Moment hatte ich naiverweise geglaubt, er würde ewig leben.
Die Trauerfeier fand in der St. Michaelis Kirche in Hamburg-Blankenese statt, derselben Kirche, in der er meine Mutter Elke vor 35 Jahren geheiratet hatte. Sie war sechs Jahre zuvor gestorben, und ich glaube, ein Teil von ihm war an diesem Tag mit ihr gegangen.
Ich, Daniel, traf früh ein. Die Kirche roch nach Lilien und altem Holz. Ich saß allein in der ersten Reihe und starrte auf den geschlossenen Sarg, der mit einer deutschen Flagge bedeckt war. Papa war Veteran. Er hatte in den 70ern bei der Bundeswehr gedient, war zurückgekommen und hatte aus dem Nichts ein kleines Druckerei- und Werbetechnikgeschäft aufgebaut. Als ich geboren wurde, florierte es bereits. Als Jonas drei Jahre später auf die Welt kam, war es ein Unternehmen mit einem Millionen-Umsatz.
Jonas kam natürlich zu spät. Er rauschte herein in einem scharf geschnittenen Anzug, mindestens 3.000 Euro wert, und schüttelte Hände, als wäre er auf einer Business-Konferenz. Er weinte nicht. Ich sah ihm zu, wie er den Raum bearbeitete, den trauernden Sohn spielte, während er zwischen den Kondolenzen auf sein Smartphone schielte. Das war Jonas, immer eine Performance.
Wir waren uns nie nah gewesen. Ich war der Stille, der Bücher mochte und Dinge mit seinen Händen reparierte. Jonas war der Star, Mannschaftskapitän beim örtlichen Hockey-Verein, Papas ganzer Stolz. Bei jedem Sonntagsessen fragte Papa Jonas nach seinen Verkaufszahlen, seinen Kundenterminen, seinem nächsten großen Deal. Zu mir drehte er sich um und sagte: „Und, wie läuft’s mit dem Haus?“ Als wäre mein Leben nur ein belangloses Nebenprojekt.
Die Testamentseröffnung fand drei Tage später in den Kanzleiräumen von Dr. Sommer & Partner statt, den Anwälten, die Papa seit Jahrzehnten nutzte. Der Mahagoni-Konferenztisch war viel zu groß für uns vier: Jonas, mich, Herrn Dr. Sommer und Papas langjährige Buchhalterin, Frau Richter.
Dr. Sommer räusperte sich und begann vorzulesen. Die Sprache war formal, juristisch, kalt. Dann kam die Verteilung der Vermögenswerte.
„Meinem Sohn Joshua (Jonas) Weber hinterlasse ich mein Geschäft, die ’Weber Print & Media GmbH’, einschließlich aller Vermögenswerte, Kundenverträge und des operativen Geschäfts, bewertet mit ca. vier Millionen Euro.“
Jonas lehnte sich mit einem breiten Grinsen zurück. Er hatte es erwartet. Er hatte es verdient, dachte er wahrscheinlich.
„Meinem Sohn Daniel Weber“, fuhr Dr. Sommer fort, und ich hielt den Atem an, „hinterlasse ich das Familienhaus in der Eichenallee 17, Hamburg.“
Stille. Dann Jonas’ Lachen. Er lachte laut auf.
„Die alte Hütte? Ernsthaft? Das Ding ist, was, 200.000 Euro wert, wenn er Glück hat?“ Er sah mich mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung an. „Na, dann wissen wir ja, wer Papas richtiger Sohn war, oder?“
Ich reagierte nicht. Ich saß nur da und spürte das vertraute Stechen, nur die zweite Wahl zu sein. Dr. Sommer wirkte beklommen, sagte aber nichts. Frau Richter mied meinen Blick. Ich unterschrieb die Papiere schweigend, schüttelte dem Notar die Hand und ging hinaus. Hinter mir hörte ich Jonas bereits telefonieren und jemandem von seinem Erbe, seinem Imperium, seiner Zukunft erzählen.
Noch am selben Abend fuhr ich zum Elternhaus. Es war ungeplant, aber ich musste an einen Ort, an dem sich noch ein Teil von Papa festhielt. Das Haus lag am Ende einer ruhigen Straße, gesäumt von Eichen, die Papa gepflanzt hatte, als ich fünf war. Es war ein bescheidenes, zweistöckiges Klinkerhaus aus dem Jahr 1952 mit einer umlaufenden Veranda. Der Putz blätterte. Die Fensterläden waren marode. Ich verstand, warum Jonas es eine „Bruchbude“ nannte.
Aber als ich dort in der Auffahrt stand, erinnerte ich mich an Sommerabende auf dieser Veranda. Papa, wie er mir beibrachte, eine Wasserwaage zu benutzen, ein Maßband zu lesen, Dinge zu reparieren, anstatt sie wegzuwerfen.
Ich schloss auf. Die Luft im Inneren war abgestanden. Alles sah genau so aus, wie Papa es hinterlassen hatte. Seine Lesebrille auf dem Beistelltisch, ein halb fertiges Kreuzworträtsel, der Geruch seines Kaffees hing noch leicht in der Luft. Ich ging langsam durch die Räume, berührte vertraute Dinge, erinnerte mich an eine Kindheit, die sich sowohl fern als auch unmittelbar anfühlte.



